Die Gemeindewachstumsbewegung ist „eine anregende, jedoch umstrittene Entwicklung in den heutigen Gemeinden.“1 So heißt es in einem zitierten Bericht von C. Peter Wagner, einem ihrer führenden Sprecher.2 Diese Bewegung dringt in erschreckender Weise in die Versammlungen von Christen vor, die von ihrer Tradition her bekannt dafür sind, dass sie ihren Schwerpunkt auf neutestamentliche Grundsätze legen. Getreu seinem Ruf hat sich dieser neue Einfluss sowohl als anregend als auch als umstritten erwiesen.
Wir brauchen Anregung
Das Wachstum und die Multiplikation von Gemeinden ist biblisch (Apg 9,31; 16,5; 1Kor 3,6; Eph 4,11-16). Wachstum ist auch unserem HERRN äußerst wichtig. Wenn unsere Kinder aufhören würden zu wachsen, wären wir verzweifelt. Uns könnte nichts außer der genauen Erklärung der Wachstumshindernisse und eine angemessene und effektive Behandlung der Krankheit beruhigen. Als das Volk des HERRN sollten wir Sein Interesse an der Ausbreitung des Wortes und am Wachstum der Gemeinden teilen.
Wir brauchen Anregung. Streitereien brauchen wir nicht. Streitfragen sind aber aufgekommen. Einige Fürsprecher des Gemeindewachstums scheinen das Festhalten an neutestamentlichen Grundsätzen der Gemeinde (manchmal als „Merkmale der Versammlungen“ oder „Tradition der Brüdergemeinden“ bezeichnet) mit Wachstumshindernissen gleichzusetzen. Sie schlagen Veränderungen vor, die uns nicht gerade wenig Anlass zur Besorgnis geben. Denn wir haben uns verpflichtet, uns gemäß der Schlichtheit des Neuen Testaments zu versammeln.
Der Autor dieses Artikels verließ als Erwachsener eine Denomination, weil er Überzeugungen über neutestamentliche Grundsätze von Versammlungen angenommen hatte. Gemeindegründung ist heute mein täglich’ Brot. Das Anliegen des Gemeindewachstums auf der einen Seite und die Verpflichtung gegenüber den Grundsätzen der Versammlung haben mich dazu gezwungen, über diese Dinge gründlich nachzudenken. Ich wurde oft daran erinnert, dass mich meine Eltern vor Menschen ohne Prinzipien gewarnt hatten. Sie warnten vor Menschen, deren Handeln nicht durch die Verpflichtung Prinzipien gegenüber bestimmt wird, sondern durch den Zweck, den sie durch ihr Handeln erreichen wollen. Dieser Zweck rechtfertige und heilige die Mittel. Zugegeben, Gemeindewachstum ist ein hoher biblischer Anspruch. Aber es ist nicht das einzige Prinzip, das wir beachten müssen. Wir sind dem vollen Ratschluss Gottes gegenüber verpflichtet. Wenn eine Strategie für Gemeindewachstum andere biblische Prinzipien beeinträchtigt, dann könnte man das Ergebnis „prinzipienloses Wachstum“ nennen.
Wachstum ist nicht gleich Wachstum
Nicht jede Form des Wachstums ist gesund und wünschenswert. Es ist eine Tatsache, dass unkontrolliertes Wachstum in einem menschlichen Körper tödlich sein kann. Wachstum von Krebszellen könnte man „Wachstum um des Wachstums willen auf Kosten des Prinzips der Gesundheit“ nennen. Fettsucht ist auch eine Art von Wachstum, aber die kann schwerlich als wünschenswert bezeichnet werden. Gesundes Wachstum, sei es in einem physischen oder geistlichen Leib, wird nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives sein.
Das Aufkommen der Gemeindewachstumsbewegung polarisiert uns und treibt uns zu einer von zwei unbefriedigenden Möglichkeiten. Einige werden mit fliegenden Fahnen zu dieser Bewegung überwechseln. Andere werden sich sogar gegen gesunde Veränderungen stellen, indem sie sich auf die Prinzipien einer immer kleiner werdenden Anzahl von Gemeinden zurückbesinnen. Die erste Möglichkeit nennen wir „Wachstum auf Kosten von Grundsätzen“. Die andere wurde spöttisch als „Treue, die keine Früchte bringt“ bezeichnet. Keiner dieser Ansätze hält einer Prüfung durch die Schrift stand.
Ansatz 1: Wachstum auf Kosten von Grundsätzen
Ich rede töricht:
Wir werden damit beginnen, unsere „Marketingstrategie“ zu planen. Dr. Wagner nennt das „Philosophie des Dienstes“. Fallstudien an erfolgreichen Großgemeinden werden eine Schlüsselrolle bei unseren strategischen Planungssitzungen spielen. Wenn es schließlich in Willow Creek (Chicago) und in Saddleback (Los Angeles) funktionierte, dann wird es auch für uns gut sein. Demographische Erhebungen werden uns zeigen, wer die möglichen „Kunden“ in unserem Zielgebiet sind und was ihre Bedürfnisse und „Vorlieben und Abneigungen“ sind. Diese Daten werden sich als von unschätzbarem Wert herausstellen, wenn wir unser Marketingprogramm zuschneiden, das die Bedürfnisse und Wünsche der „Kunden“ befriedigen soll. Studien zeigen, dass viele gern am Sonntag zu Gemeindeveranstaltungen gehen. Weiterhin wird ein bestimmter Prozentsatz wiederkommen, wenn wir einen guten Ersteindruck auf sie machen. Besucherorientiertes Handeln ist eine bewährte Methode des Gemeindewachstums. Wenn die Leute glücklich sind und weiterhin kommen, sind die Prozentsätze auf unserer Seite. Und heute – in den Tagen der abnehmenden Loyalität gegenüber Grundsätzen – springen Christen sowieso hin und her. Wenn sie unsere Programme mögen, dann können wir ihnen vielleicht ein neues gemeindliches „Zuhause“ bieten. Der Kunde ist König. Der Tag des HERRN kann zum Tag der Menschen werden. Wir haben vielleicht unwissentlich das Motto „vox populi“ (das Gesetz der Volksstimme) angenommen. Ein Beispiel: Studien zeigen, dass in diesem Jahr mehr Frauen mit Universitätsabschluß als Männer in die Arbeitswelt eintreten. Da draußen sind eine Menge Feministinnen, die auch Christus brauchen. Wir wollen sie doch nicht vergraulen! Es ist höchste Zeit, die Rolle der Frau in den Versammlungen zu überdenken, oder? Studien zeigen, dass 56% der erwachsenen Amerikaner Rockmusik mögen. Geben wir ihnen also Musik mit „Beat“. Anspiele sind „in“ – räumen wir ihnen Zeit ein. Zur Übereinstimmung mit den Aufmerksamkeitsspannen sollten wir noch die Predigt kürzen. Studien zeigen, dass die Leute nicht wiederkommen, wenn der Prediger ein Langweiler ist. Also laufen wir zur Höchstform auf. Wir haben beschlossen, es nicht „Ein-Mann-Dienst“ zu nennen. Unser Mann sollte unbedingt über relevante Themen sprechen. Also finden wir heraus, was die Leute hören wollen. Das predigen wir. Das ist relevant. Die Konkurrenz ist groß. Die Messlatte liegt hoch. Wir proben das Ganze besser noch mal. Alles noch mal von Anfang an! Was aber, wenn die Leute in der Gemeinde diese ganzen Neuerungen nicht mögen? Dann sollten sie besser 1. Korinther 9 lesen. Wir sind „allen alles geworden, damit wir auf alle Weise einige erretten.“ Nennen Sie es Kontextualisierung. Nennen Sie es Marketing. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wir sind dabei zu wachsen. Wenn wir keine Zustimmung zu unserer „Philosophie des Dienstes“ bekommen, dann können wir ja ein Gemeindegründungsteam bilden und woanders hin gehen.
Wollen wir uns etwas Zeit nehmen, um einige kritische Fragen zu stellen, bevor wir uns anderen unbefriedigenden Lösung zuwenden. Zuerst einmal: Ist das Konzept des besucherorientierten Handelns biblisch belegbar? Der Herr Jesus scheint es ganz offensichtlich ignoriert zu haben. Er vermied grundsätzlich Publicity und die umschwärmten Leute. Er lockte nicht mit „relevanten“ Predigtthemen, sondern mit einem Dienst der Liebe und mit dem Evangelium der Gnade. Gleichzeitig reduzierte Er die Menge durch Seine harten Bedingungen der Jüngerschaft. Der HERR war nicht beunruhigt, wenn die Leute wegen Seiner „harten Rede“ nicht mehr wiederkamen (Joh 6,60f; Lk 16,16-23). Hingabe an die Wahrheit hielt Leute wie Petrus bei der Stange (Joh 6,66-69). In seinen Anweisungen an den jungen Hirten Timotheus stellte Paulus sogar die Praxis zu predigen, was den Leuten angenehm ist, als einen Widerspruch zu dem treuen Dienst am Wort dar (2Tim 4,1-4). Die Predigten von Petrus, Stephanus und Paulus offenbarten ein großes Verständnis für ihre Zuhörer. Aber das apostolische Predigen verbunden mit den heiligen Maßstäben der ersten Gemeinde schreckten eher ab, als dass sie diejenigen, welche sich nicht festgelegt hatten, anzogen. Während einer Zeit beispiellosen Gemeindewachstums wagten die Fernstehenden nicht, „sich der Gemeinde anzuschließen, doch das Volk rühmte sie“ (Apg 5,12-14). Es war möglich, dass Ungläubige Gottesdienstversammlungen der Gemeinde beiwohnten (1Kor 14,23-25). Aber man wird die Schrift vergebens nach einem Hinweis auf Zusammenkünfte der Gemeinde absuchen, die der Evangelisation dienten. Dazu gingen die Christen auseinander!
Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, was das Ziel von Zusammenkünften der Gemeinde ist. Sie kamen zusammen zur Erbauung, um Gemeinschaft zu haben, zum Gedenken im Abendmahl und zum Gebet (Apg 2,42+20,7; 1Kor 11,17f+14,23-26). Die Schrift wendet sich also gegen besucherorientiertes Handeln.
Wachstum durch besucherorientiertes Handeln bringt auch Nachteile. Es ist nur allzu leicht für einen Nichtchristen, sich nach und nach der Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde anzugleichen, wenn seine Begegnung mit der Gemeinde darauf ausgelegt ist, ihm das Gefühl der Zugehörigkeit zu geben. Die „Demarkationslinie“ verwischt, wenn „zur Gemeinde gehen“ vor der Bekehrung kommt. „Nicht richtig bekehrte“ Gemeindemitglieder sind selbst in großer Gefahr und könnten auch der Gemeinschaft der Gemeinde zu späterem Zeitpunkt Schaden zufügen.
Ein weiterer Nachteil des besucherorientierten Handelns ist die illusorische Natur des daraus resultierenden Wachstums. Das Bedienen der religiösen Kundschaft wird nicht nur die Gemeindefernen anziehen, sondern auch unzufriedene Christen und Mitglieder anderer lokaler Gemeinden. Ich war erfreut, als ich von einer nordamerikanischen Gemeinde las, die in nur zwei Jahren von Fünfzig auf Vierhundert angewachsen war. Doch ein Gemeindeältester erzählte mir später, dass sie in jener Zeit (nur) zwanzig Bekehrungen gesehen hätten. Durch einfaches Kopfrechnen kommt man auf 330 Abwanderer. Wirkliches Gemeindewachstum bedeutet jedoch das Hinzufügen durch echte Bekehrungen (Apg 2,47+4,14) – nicht Wachstum durch Abwandern auf Kosten anderer Gemeinschaften.
Wachstum durch Abwanderer bringt auch oft Pluralismus hervor, was in Folge dessen die Hingabe einer Gemeinde an neutestamentliche Versammlungsprinzipien abschwächt. An der Schrift ausgerichtete Versammlungen passen nicht gut mit den aktuellen „Dienstphilosophien“ zusammen. Diejenigen, deren Prinzipientreue nur ein Lippenbekenntnis ist, neigen dazu, alles zu vereinfachen, indem sie unsere Prinzipien entweder ausweiten oder neu definieren bis sie irgendwann bei Prinzipienlosigkeit ankommen.
Der große tschechische Staatsmann Thomas Masaryk lehrte: „Nationen leben von den Prinzipien, die bei ihrer Gründung Pate standen.“ Pflichtschuldige Hingabe an die „Wurzeln der Brüdergemeinden“ sind auch nicht die Lösung. Neutestamentliche Gemeindegrundsätze sollten unsere „Philosophie des Dienstes“ bestimmen und nicht umgekehrt.
Ist der „Ein-Mann-Dienst“ einfach nur eine Frage der Rückbesinnung? Ist die Ordnung des Gottesdienstes strenggenommen eine Frage der Dienstphilosophie? Hat die Bibel darüber gar nichts zu sagen? Paulus schreibt doch vom geordneten Dienst am Wort durch die vielfältige Beteiligung ganz unterschiedlich begabter Brüder unter der Leitung des Heiligen Geistes (1Kor 14,26-34; Eph 5,18-21).
Und die Studien?
Studien zeigen uns sehr viele Dinge. Sie können sehr nützlich sein, wenn wir effektivere Arten und Methoden suchen, um die unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten zu erreichen. Gemeindegründung auf dem sandigen Untergrund von Konventionen ist jedoch ein riskantes Geschäft. Wenn die Studien unsere Praxis von neutestamentlichen Prinzipien revidieren wollen, führen sie uns in die Irre. Heute fehlt mir oft der lautstarke Ausruf „Das Wort Gottes sagt …“
Ist es biblisch, sich auf 1. Korinther 9,19 als Autorität zu berufen, um die Ordnung und Funktion von Gemeindegottesdiensten zu verändern? Ist es fair diese Verse zu zitieren, wenn wir darüber reden, wie „sich die Gemeinde versammelte“? Haben wir vergessen, dass Paulus hier die Grenzen der notwendigen geistlichen Freiheit und kulturellen Flexibilität aufzeigt, bezogen auf die Evangelisation von Einzelnen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen in der Welt? Der Apostel spricht hier auf keinen Fall darüber, Elemente, die in der heidnischen oder jüdischen Welt bekannt waren, in die gottesdienstlichen Versammlungen zu integrieren. Nichtchristen dürfen es sich in der Gemeinde einfach nicht gemütlich machen!
Die Griechen waren weltweit die Experten in Sachen Theaterstücke. So weltlich die Korinther auch waren, sie führten doch keine Dramen in die Versammlungen ein (1Kor 14). Paulus schreibt darüber, was man sich nach einer hitzigen Diskussion in der Synagoge zum Essen bestellen kann, oder wie man sich an einem heidnischen Esstisch verhält. Innere Beherrschung durch das „Gesetz Christi“ (die Herrschaft des Herrn Jesus Christus) bestimmen unser Leben und unser kulturell feinfühliges Zeugnis in der Welt. Andere Prinzipien, die auch in diesem Korintherbrief verkündet sind, bestimmen unser Verhalten in den gottesdienstlichen Versammlungen.
Wenig wird über wirkliche Buße, echten Zerbruch, über das „gekreuzigte Ich“, das Tun der ersten Werke oder das Harren auf Gott bezüglich Erweckung in Gemeindewachstumskreisen gesagt. Es scheint, dass
Marketingstrategien das zeiterprobte Konzept des göttlichen Segens zu ersetzen drohen. Ein führender Experte erzählte seiner Seminargruppe, dass die Prinzipien und Methoden, die er in seinem Gemeindewachstums-Seminar unterrichtet, gleichermaßen in verschiedenen Organisationen anwendbar seien. Er sagte weiter, dass sie bei den Mormonen und im „Kawanis Club“ funktionierten, und sie würden auch in der Gemeinde funktionieren. Aber unsere echten Probleme sind geistlicher Natur. Und echte Erneuerung unserer Versammlungen ist durch unsere geistliche Verfassung bestimmt, nicht durch das Annehmen verschiedener Werkzeuge, Methoden und Reklametricks. Selbst wertvolle Methodik und Einsichten werden zu einem Arsenal von fleischlichen Waffen, wenn sie überbetont werden oder man sich allein darauf verlässt.
Juan Carlos Ortiz berichtet von einer Lektion, die er vom HERRN nach zwei Jahren der Organisation und Evangelisation lernte:
Das Erste, was er sagte, war: „Du verbreitest das Evangelium so, wie Coca-Cola Coke verkauft und wie Reader’s Digest Bücher und Zeitschriften verkauft. Du benutzt alle menschlichen Tricks, die du in der Schule gelernt hast. Aber wo ist meine Hand in all diesem?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Dann sagte mir der HERR eine zweite Sache: „Ihr wachst nicht“ sagte er. „Ihr denkt nur, ihr wachst, weil ihr euch von 200 auf 600 vermehrt habt. Aber ihr wachst nicht – ihr werdet bloß fett.“
Ansatz 2: „Treue ohne Frucht“
Dieses Missverhältnis dieser Sorte von „Treue“ erschütterte mich während einer frühen Begegnung mit Christen, die sich „Versammlungsprinzipien“ verschrieben hatten. Ein wohlmeinender Bruder pries eine Versammlung, die so weit zusammengeschrumpft war, dass sie auf ein Sofa passte. Anscheinend saß auf diesem Sofa kein Pastor. Die Gruppe kam wöchentlich zusammen, um das Brot auf eine Weise zu brechen, die viele von uns noch schätzen. Unser Bruder
sagte: „Sie sind einfach treu.“ Ich erinnere mich, mir in Gedanken eine Notiz gemacht zu haben, um darüber nachzudenken. Treue und Unfruchtbarkeit? Was für ein seltsames Paar! Während man über unterschiedliche Dinge unterschiedlicher Meinung sein kann, ist man mehr oder weniger dazu gezwungen, die Verbindung von Treue und Unfruchtbarkeit auf anderen Gebieten zu sehen. Ganz sicher verbindet die Bibel diese beiden. Menschenfischer zu werden ist eine Funktion der Nachfolge Christi (Mk 1, 17). Frucht zu bringen ist das Zeichen wahrer Jüngerschaft (Joh 15, 8). Das Einbringen von Ernte ist die Verheißung an diejenigen, die nicht müde werden, Gutes zu tun (Gal 6, 9).
Ein Auszug aus einem Brief eines leitenden Bruders in Nordamerika fasst diese moderne Anomalie sehr schön zusammen: „Wir hören viele sagen, dass ‘Gemeinden sterben’, oder ‘ohne Veränderungen sind wir passé’. Aber die Tatsache ist, dass sterbende Gemeinden die „obersten Grundsätze“ verlassen haben. Sie haben die Evangelisation vergessen und betrauern den Mangel an Wachstum.“
Was ist dann das Problem? Mangelnde Treue! Wie kann das Vernachlässigen der „obersten Grundsätze“ der Evangelisation, sowohl persönlich als auch als Gemeinde, des effektiven Hirtendienstes und der Ausbildung von Leitern als „Treue“ bezeichnet werden? Unser echtes Problem ist nicht so sehr unsere Unfruchtbarkeit als vielmehr unsere Untreue gegenüber den „obersten Grundsätzen“. Die vorherrschende Einstellung mag präziser als selektive Treue bezeichnet werden. Wir sind den wichtigen biblischen Grundsätzen treu geblieben, die von anderen Seiten vernachlässigt worden sind und welche zu unserem schmerzlichen Bedauern gegenwärtig von manchen Gemeinden verworfen werden. Als Ergebnis verdoppeln wir unsere Anstrengungen, unsere besondere Art von Treue zu erhalten. Aber die Aufmerksamkeit dafür und die Pflege dieser Besonderheit entbindet uns nicht von der Treue auf anderen wichtigen Gebieten. „Treue ohne Frucht“ bedeutet, über unsere eigenen Grundsätze zu stolpern.
Der Ausdruck „Wahrheit ohne Wachstum“ ist eine andere Variation desselben Themas. Wenn Treue und Fruchtlosigkeit schon seltsame Gefährten sind, dann ist Wahrheit ohne Wachstum eine traurige, unnötige Scheidung, eine Scheidung, die durch einen Mangel an Liebe verursacht wurde. Paulus verband Wahrheit mit Gemeindewachstum im Epheserbrief. Durch „das Bekennen der Wahrheit in Liebe“ wird das „Wachstum des Leibes der Gemeinde“ bewirkt (Eph 4,15-16). Wenn die Heiligkeit der ersten Gemeinde die Fernstehenden auf Abstand hielt, dann war es ihre Liebe und Einmütigkeit, die sie anzogen (Apg 4,32 – 5,14). Wenn uns Gemeindewachstums-Forscher sagen, dass Freundlichkeit und Wärme zu den wichtigsten Faktoren des Gemeindewachstums gehören, dann berichten sie nur das ohnehin Bekannte.
Überleben ohne Vision ist unmöglich. Menschen und Gemeinden kommen um vor Verlangen nach einer Vision (Spr 29,18). Ich fragte einmal den tonangebenden Ältesten einer schrumpfenden Gemeinde, was er bevorzugen würde: Wäre es ihm lieber, wenn ein paar neue Familien dazukämen, damit sie sich weiterhin versammeln könnten, oder dass die Reserven der Gemeinde mobilisiert würden, um die Verlorenen zu evangelisieren und eine ganz neue Generation von Leitern heranzubilden? Ich war erschrocken angesichts seiner Bevorzugung der ersten Möglichkeit. Ich bin nicht erschrocken darüber, dass ihr Gemeindehaus zum Verkauf steht. Gleichgültigkeit gegenüber Wachstum, geringe Erwartungen oder Unglaube und Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Status Quo sind der Todesstoß für viele Gemeinden.
Der bessere Weg: „Wachstum nach Grundsätzen“
Man muss angesichts dieser Notlage nicht verzweifeln. Es gibt einen viel besseren Weg. Die neutestamentlichen Grundsätze funktionieren. Sie funktionieren in einer Anzahl beispielhafter Gemeinden in Nordamerika. Missionare und Einheimische auf verschiedenen Feldern beweisen, dass sie heute noch funktionieren. Wir haben zehn kurze Jahre lang in einer wohlhabenden westeuropäischen Stadt gearbeitet, die für ihren Widerstand dem Evangelium gegenüber bekannt ist. In Zusammenarbeit mit einem anderen Missionarsehepaar und
Österreichern haben wir Christen geschult. Wir waren Zeugen von Geburt und Wachstum von mehr als einem Dutzend Gemeinden in unserem Gebiet. Die Wachstumsrate dieser Arbeit in den vergangenen zwanzig Jahren hat uns in Erstaunen versetzt. Gott segnet! Mehr denn je sind wir von der Zeitlosigkeit der neutestamentlichen Grundsätze überzeugt und möchten kurz ein paar praktische Vorschläge weitergeben für diejenigen, die an „Wachstum nach Grundsätzen“ interessiert sind. Manche Vorschläge werden sich mit dem decken, was einige Gemeindewachstums-Experten an anregenden Vorschlägen anbieten.
1. Ehrliche Einschätzung des geistlichen Zustandes der Gemeinde
Die Leitung der Gemeinde könnte damit beginnen, eine Bestandsaufnahme ihres eigenen Lebens und Dienstes zu machen. Mangelt es uns als Gruppe an einer Vision? Sind wir zu beschäftigt mit weltlichen Dingen? Hängen wir mit ganzer Hingabe am HERRN und haben uns dem Bau Seiner Gemeinde verpflichtet? Widerstehen wir Veränderungen? Sind wir aktiv damit beschäftigt, die Herde zu weiden? Neutestamentliche Gemeinden bestehen aus neutestamentlichen Christen. Wie würden wir den geistlichen Zustand der Herde beschreiben? Was sind die größten Schwierigkeiten, denen wir uns als Gemeinde gegenüber sehen? Welche größeren Wachstumshindernisse können wir herausfinden? Hat unsere Gemeinde klar umrissene Ziele, die den meisten der Mitglieder bekannt sind und von ihnen geteilt werden? Praktizieren wir wirklich die „obersten Grundsätze“? Wird unsere Versammlung von Liebe bestimmt? Oder von Kritik? Werden wir regelmäßig Zeugen davon, dass sich Erwachsene bekehren? Werden sie in die Gemeinde integriert? Wie viele waren es in den vergangenen zwei Jahren? Wie viele Arten von Evangelisation haben wir ausprobiert? Welche hat sich als effektiv herausgestellt?
Eine liebevolle, realistische Selbsteinschätzung kann Vernachlässigung und Unterlassungssünden enthüllen und Gelegenheit zur Buße und Sündenbekenntnis geben. Erkannte Schwächen sollten auf klar umrissene Entscheidungen und Pläne zur Veränderung zielen.
2. Verpflichtung zu geistlicher Erneuerung
Die Gemeinde ist ein geistlicher Organismus und die Mehrheit der Wachstumshindernisse sind geistlicher Natur. Die mächtige Waffe des Gebetes wird nur allzu oft von denen vernachlässigt, die es besser wissen sollten. Bereits existierenden Gebetsversammlungen mangelt es oft an Lebendigkeit. Jemand beschrieb eine typische Gebetsversammlung einmal als einen Ort, wo man hingeht, um zu hören, wer krank oder arbeitslos ist. Die Ziele unserer Versammlung und speziell das Ziel der Evangelisation sollten hier eine zentrale Rolle spielen. Wir Leiter treffen uns dienstags um 6.00 Uhr morgens zum Gebet. Wir geben einander Rechenschaft. Das hält uns geistlich in Form.
3. Besuche und Hirtendienst
Viele Älteste handeln in erster Linie als Manager und „Entscheidungsfäller“ anstatt Hirten zu sein. In manchen Gemeinden gibt es keinen Besuchsdienst. Wenn es so ist, dann sollten wir etwas unternehmen.
4. Training zur Ausrüstung von Mitarbeitern
Evangelisten, Hirten und Lehrer sind der Gemeinde nicht nur gegeben, um ihren Bedürfnissen abzuhelfen, sondern auch als Zurüster und Ausbilder der Heiligen zum Dienst. Gottes Plan für das Wachstum nach Grundsätzen ist eine stetig wachsende Anzahl von Arbeitern, die ihre Aufgabe im „Leib“ gefunden haben und zugerüstet sind, um dort zu dienen (Eph 4,11-16). Neutestamentliche Versammlungen sind hierfür strukturiert, aber bedauerlicherweise fehlt in diesem Zusammenhang oft Training und Ermutigung.
Unser Training beinhaltet persönliche Gespräche mit einigen wenigen und Gruppentraining im größeren Kreis. Persönliche Evangelisation, Ausbildung für den Besuchsdienst, Jüngerschaftskurse, Ausbildung von Lehrern, Methoden des Bibelstudiums, Hirtendienst, das Studium des Neuen Testamentes, Predigen, das Leben eines Leiters sind größere Themen, die wir in Österreich während der letzten Jahre in Angriff genommen haben. Unsere Langzeitinvestition zahlt sich aus. Wir besetzen unseren Mitarbeiterstab mit selbst ausgebildeten Männern und Frauen.
Bei Nachforschungen innerhalb der Gemeinschaft der erwachsenen Gläubigen in der Salzburger Gemeinde stellten wir fest, dass eine bestimmte Anzahl begabter, sehr williger Gläubiger nicht aktiv im Dienst standen. Sie warteten, dass wir die Initiative ergreifen würden. In vielen Fällen haben wir das auch getan. Wir fragen uns nicht: „Wer ist der oder die Richtige für diese Aufgabe?“ Wir fragen stattdessen: „Was ist die richtige Aufgabe für diesen Christen?“ Idealerweise sollten wir eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Heiligen frei fühlen, selbst die Initiative im Werk des HERRN zu ergreifen.
5. Training zum Evangelisieren für alle
Alle Christen sollten in den Grundlagen des Evangeliums unterrichtet sein; sie sollten wissen, wie man Beziehungen zu seiner Umgebung aufbaut und wenigstens in einigen Möglichkeiten, das Evangelium weiterzugeben. Zu diesem Thema sind viele gute Bücher erhältlich. Jeder Gläubige hat Beziehungen innerhalb eines großen Netzwerks von Ungläubigen. Wir müssen den Heiligen helfen, diese Netzwerke zu erkennen und diese natürlichen Gelegenheiten zum Evangelisieren zu nutzen. Wir sollten denjenigen, die mit unseren Gläubigen in Kontakt sind, „Erntewagen“ zur Verfügung stellen. Jeder neugeborene Christ kann sagen „Komm und sieh!“ Evangelistische Bibelstunden, Glaubensgrundkurse und speziell geplante evangelistische Treffen mit besonderen Rednern sind nur ein paar der vielen Möglichkeiten, die man hat. Ein großer Prozentsatz der Gläubigen im Land Salzburg sind durch eine Kombination von persönlichem Zeugnis, evangelistischen Treffen in Wohnzimmern oder in einem örtlichen Hotel und evangelistischen Besuchen durch den Gläubigen und den Sprecher der Evangelisation zum Glauben gekommen.
6. Wärme in den Versammlungen und Gastfreundschaft in den Häusern
Viele von uns sind anfangs nicht durch Redekunst oder Predigten von der Relevanz des Evangeliums überzeugt worden, sondern durch die sichtbare Liebe und Einheit unter den Heiligen. Dies ist ein vielfach vernachlässigtes neutestamentliches Prinzip.
7. Unterweisung in neutestamentlichen Versammlungsgrundsätzen
Mir wurde in Nordamerika viel Dankbarkeit entgegengebracht für Vorträge, die ich hielt, und für private Diskussionen über neutestamentliche Versammlungsgrundsätze. Wir setzen zu viel als selbstverständlich voraus. Nicht wenige, die in Gemeinden aufwachsen, sind anscheinend schlecht unterrichtet, was unsere Grundsätze betrifft. Wir sollten also die Betonung auf die Inhalte und deren Bedeutung legen. Wenn wir mit Gläubigen über die Aufnahme in die Gemeinde reden, dann geben wir ihnen einen Artikel über die Überzeugungen unserer Gemeinschaft. Wir erklären auch die verschiedenen Ziele. Das war noch nie schwierig mit jemandem, der sich „aus der Welt“ bekehrt hatte – nur mit denen, welche die Gemeinde wechseln wollten. Eine frisch bekehrte Frau flüsterte: „Warum tragen die Frauen Kopftuch?“ Ihre Nachbarin flüsterte: „Es steht in 1Korinther 11.“ – „Oh, danke schön, ich bin erst bei Lukas!“
Neutestamentliche Gemeindeprinzipien verhinderten im ersten Jahrhundert das Gemeindewachstum nicht. Sie verhinderten es mit Sicherheit auch im letzten Jahrhundert nicht. Wenn sie vernünftig angewendet werden, werden sie auch heute kein gesundes Gemeindewachstum verhindern. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere gegenwärtige Dienstauffassung im Licht des Neuen Testamentes überprüfen. Wir profitieren am besten von den Vorschlägen und Beispielen unserer offensichtlich erfolgreichen Geschwister, indem wir alles prüfen, was wir hören und lesen und nur das festhalten, was dem Test durch die Schrift standhält. Wir müssen uns nicht für das Festhalten an neutestamentlichen Prinzipien entschuldigen. Es ist eine Tatsache, dass wir zu den „obersten Grundsätzen“ zurückkehren müssen, wenn wir „Wachstum nach Grundsätzen“ erleben wollen.
Fußnoten
- C. Peter Wagner, Your Church Can Grow, Ventura, CA: Regal Books ↩︎
- Charles Peter Wagner (1930 – 2016) war ein US-amerikanischer evangelikaler Theologe, Missionswissenschaftler, Referent, Autor und Experte zu Gemeindeaufbau, Gemeindewachstum und der neuen apostolischen Bewegung. Wagner gilt als Mitbegründer des umstrittenen Konzeptes der geistlichen Kampfführung. Quelle: Wikipedia vom 20.05.2025 ↩︎